"Nichts über uns ohne uns" (12/2003)
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind über 500 Millionen
Menschen weltweit als Folge einer Beeinträchtigung ihrer geistigen,
körperlichen oder Wahrnehmungsfähigkeiten behindert. Ca. 38
Millionen davon leben in der Europäischen Union, was ungefähr
einem Bevölkerungsanteil von 10% entspricht. In Deutschland ist das
Verhältnis ähnlich, denn hierzulande leben rund 8 Millionen
Menschen mit Behinderung. Also, durchaus eine grosse Bevölkerungsgruppe,
deren Bedürfnisse, Interessen und Wünsche ernstgenommen werden
müssen.
Nach der Bundestagswahl 1998 einigten sich SPD und Bündnis 90/Die
Grünen in ihrer Koalitionsvereinbarung darauf, ein Paket anspruchsvoller
Aufgaben und tief greifender Reformen in der Behindertenpolitik in Angriff
zu nehmen. Unter der Vorgabe der
Gleichstellung und aktiven Teilhabe von Menschen mit Behinderung wurde
das behindertenpolitische Vier-Punkte-Programm entworfen, welches folgende
Schwerpunkte als Grundlage für Gesetzesentwürfe umfasste:
- Gesetzliche Ausfüllung des Benachteiligungsverbots des Grundgesetzes;
- Zusammenfassung und Weiterentwicklung des Rechts der Rehabilitation
durch die Schaffung eines Sozialgesetzbuches IX;
- Verbesserung der arbeitsmarktpolitischen Perspektiven für behinderte
und schwerbehinderte Menschen;
- Prüfung, wie die deutsche Gebärdensprache anerkannt und gleichbehandelt
werden kann.
Die in Deutschland lebenden behinderten Menschen sollten "nicht
mehr Objekt von Fürsorge in bürokratisch verwalteten Zusammenhängen,
sondern Subjekt in einem selbstbestimmten Alltag sein." Unsere Bundesregierung
spricht gerne von einem "behindertenpolitischen Paradigmenwechsel,
der damit [Vier-Punkte-Programm] eingeleitet wurde". Selbstbestimmung
statt Fürsorge sollte die Richtschnur der Integrationspolitik werden.
Am 1.Oktober 2000 trat dann das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
Schwerbehinderter in Kraft. Das Kernziel dieses Gesetzes ist es, die Kompetenzen
und Fähigkeiten behinderter Menschen in Arbeit und Beruf in den Mittelpunkt
zu rücken. Das Gesetz beinhaltete folgende Neuerungen:
- Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz;
- Auf- und Ausbau eines flächendeckenden Netzes von Integrationsfachdiensten
zur Vermittlung und arbeitsbegleitenden Betreuung Schwerbehinderter sowie
zur Beratung der Arbeitgeber;
- Flexible Neugestaltung des Systems von Beschäftigungspflicht und
Ausgleichsabgabe;
- Ausbau der besonderen Verpflichtungen der Arbeitgeber, insbesondere
zum Abschluss betrieblicher Integration Schwerbehinderter;
- Ausbau betrieblicher Prävention zur Sicherung und Erhaltung der
Arbeitsplätze Schwerbehinderter;
- Neuordnung und Verbesserung der Förderleistungen an Arbeitgeber
bei der Einstellung und Beschäftigung Schwerbehinderter
- Schaffung spezieller Integrationsunternehmen, -betriebe und -abteilungen.
Mit Hilfe dieses Gesetzes sollten innerhalb von zwei Jahren insgesamt
50 000 erwerbslose Schwerbehinderte wieder in das Arbeits- und Berufsleben
eingegliedert werden. Dieses Ziel konnte jedoch nicht erreicht werden.Im
Moment gibt es 166 000 arbeitslose, schwerbehinderte Menschen in Deutschland.
Das sind im Vergleich zum Herbst 1999, da waren es noch 189 000, gerade
mal 23 000 weniger.
Im Juli 2001 trat das lang ersehnte Neunte Buch Sozialgesetzbuch(SGB IX)-
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - in Kraft. Mit dem SGB
IX wurde damals der sozialpolitische Eckpfeiler des behindertenpolitischen
Gesamtkonzepts der Bundesregierung gesetzt. Das SGB IX verfolgte eine
sogenannte bürgernahe Sozialpolitik und umfasst 18 Kernpunkte, wovon
ich den Ersten besonders hervorheben will:
"Die Regelung des Rechtes der Rehabilitation und der Eingliederung
Behinderter in einem Sozialgesetzbuch IX geschieht unter folgenden Grundsätzen:
- Das SGB IX setzt das Benachteiligungsverbot des Art.3 Abs. 3 Satz 2
Grundgesetz im Bereich der Sozialpolitik um.
- Das SGB IX beendet die Divergenz und Unübersichtlichkeit des bestehenden
Rehabilitationsrechtes. Es wird angestrebt, dass
- Regelungen, die für mehrere Sozialleistungsbereiche einheitlich
sein können, nur an einer Stelle getroffen, - Vorschriften, die unterschiedlich
sein müssen, nach denselben Gesichtspunkten angeordnet und - Begriffe
und Abgrenzungskriterien aller einschlägigen Regelungen unabhängig
von ihrem Standort vereinheitlicht werden.
- Das SGB IX errichtet eine gemeinsame Plattform, auf der durch Koordination,
Kooperation und Konvergenz ein gemeinsames Recht und eine einheitliche
Praxis der Rehabilitation und der Behindertenpolitik errichtet werden
können.
- Das SGB IX organisiert bürgernah den Zugang und die Erbringung
von Leistungen, errichtet Strukturen für die Zusammenarbeit von Leistungsträgern,
Leistungserbringern und Leistungsempfängern und steuert die Leistungen
der Rehabilitation und der Eingliederung Behinderter unter Sicherung von
Qualität und Effizienz.
- Das SGB IX passt die Regelungen des Rehabilitations- und Schwerbehindertenrechts
mit dem Ziel einer Aktualisierung und Verbesserung den zeitgemäßen
Anforderungen an. Leistungsausweitungen und Neuregelungen stehen unter
dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit und sind in erster Linie durch Effizienzsteigerungen,
Vereinfachungen und Kosteneinsparungen im bestehenden System zu realisieren."
Trotz einiger Unzulänglichkeiten war das SGB IX mit seinen 18 Kernpunkten
ein Schritt nach vorne in der deutschen Behindertenpolitik und es bleibt,
auf eine praxisgerechte Umsetzung zu hoffen.
Am 01.05.2002 hat die Bundesregierung das sogenannte "Landesgleichstellungsgesetz"
beschlossen, das im Jahr 2003 von allen Bundesländern, außer
Hessen, übernommen wurde. Schwerpunkte des Gesetzes sind insbesondere:
- die Verbesserung der Barrierefreiheit und Mobilität behinderter
Menschen;
- die Erleichterung der Kommunikation unter anderem durch Anerkennung
der deutschen Gebärdensprache;
- die Einrichtung von Beauftragten für die Belange von Menschen mit
Behinderung auf kommunaler Ebene;
- die Einführung eines Verbandsklagerechts.
Zum Endes des Jahres der Menschen mit Behinderungen 2003 liegt es nahe,
ein Fazit zu ziehen. Entgegen dem Motto des Jahres der Menschen mit Behinderungen,
"Nichts über uns ohne uns", wurden viele Entscheidungen
von der Bundes- und den Landesregierungen in der Vergangenheit ohne Einbeziehung
von Interessenverbänden Behinderter getroffen. Seit Jahren von Interessengruppen
angesprochene Defizite der Gesetzgebung wurden wiederholt nicht berücksichtigt.
Beispielhaft sei angeführt:
- kein uneingeschränktes Recht behinderter Kinder auf integrative
Beschulung;
- keine Bildungsfreistellung für behinderte Menschen in Werkstätten;
- keine Verpflichtung für private Bauherren, in grossen Wohngebäuden
einen Teil der Wohnungen barrierefrei zu errichten
- keine verbindliche Verpflichtung zur barrierefreien Gestaltung des ÖPNV
(öffentlichen Personennahverkehrs).
Auch einige immer wieder von Behindertenverbänden geforderte Kernpunkte
der Gleichstellung wurden nicht im sogenannten Gesetz berücksichtigt:
- die Einbeziehung der Kommunen in den Geltungsbereich von Gleichstellung,
also dem tatsächlichen Lebensbereich der Betroffenen;
- die Barrierefreiheit als Kernpunkt von Gleichstellung - in der landesrechtlichen
Gesetzgebungskompetenz der Bereiche Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung, Verkehr
und Kommunikation.
Natürlich ist es nahezu unmöglich, es allen Interessengruppen
Recht zu machen. Dennoch sollte man bei diesem immer deutlicher werdenden
Interessenkonflikt nicht die betroffenen Menschen vergessen und des weiteren
nicht die gesetzliche und politische, also theoretische, sondern die viel
wichtigere gesellschaftliche, also praktische, Integration in den Mittelpunkt
stellen! Sicherlich ist zur Herstellung der Chancengleichheit für
Menschen mit Behinderungen eine sehr breit angelegte Strategie nötig,
die nicht nur die Bekämpfung der Diskriminierung beinhaltet, sondern
den Menschen mit Behinderung eine eigenständige Lebensführung
ermöglicht, welche tatsächliche Integration und Teilhabe bedeutet.
|